KONNY KRAKE
Hochsensibilität zeigt sich für jede:n anders und muss nicht immer nur eine Belastung sein – im Gegenteil. Ein Plädoyer für ein ausgeprägtes Gefühlsspektrum.

DIE KRINGELNDE
KRAKE
Hochsensibilität
Als Kind wollten meine Eltern mich in eine Trachtenjacke stecken. „Das kratzt“, sagte ich nur bis zum Handgelenk im Ärmel. „Nein, die ist gefüttert“, erwiderte mein Vater. Schon damals wunderte ich mich, wie jemand auf die Idee kommen konnte, meine eigenen Gefühle und Empfindungen zu berichtigen.
von Konstanze Popp
Ich weigerte mich, die Kratzjacke anzuprobieren. Mein Vater, der gerne eine Miniversion seiner bayerischen Wurzeln im Dirndl präsentieren wollte, war beleidigt. Schon damals hatte ich das Gefühl, dass irgendwas anders war, irgendwas nicht stimmte. Jetzt verstehe ich, warum ich in so vielen Situationen nicht verstanden wurde. Warum ich immer hörte: „Das ist nicht laut, es ist nicht hell, das riecht man doch kaum.“ Warum ich von jeder Veranstaltung mit mehr als drei Leuten zwischendurch flüchten musste, um eine kleine Pause vom Trubel zu haben. Warum ein uraltes Vanilleduftsäckchen tief vergraben im Haus meiner Oma für die Dauer meines Aufenthaltes auf die Terrasse wandern musste. Im Nachhinein ergibt alles Sinn, nur wusste ich damals nichts über die Existenz von Hochsensibilität.
(Über)empfindlich
​
Ein Leben ohne Filter ist nicht immer angenehm. Lärm zum Beispiel ist allgemein unbeliebt. Aber wenn man Gespräche durch geschlossene Türen belauschen kann oder durch einen einzelnen Regentropfen geweckt wird, bekommt die Bezeichnung Lärm eine andere Bedeutung. Diese Art der Wahrnehmung kann man größtenteils auf die anderen Sinne übertragen. Genau aus diesem Grund denken die meisten Menschen an geringe Belastbarkeit, wenn sie das Wort hochsensibel hören, an Leute, die überempfindlich sind. Leider ist das Gebiet sehr wenig erforscht – in vermeintlichen Fachartikeln finden sich immer wieder die gleichen überholten Klischees. Ausgeglichen werden die Wissenslücken dafür mit Vorurteilen. Mit Assoziationen an lethargische und zerbrechliche Personen, die keinen Druck aushalten können und beim geringsten Widerstand einknicken. Dass Hochsensibilität auch ganz anders aussehen kann, ist den wenigsten bewusst. Und das, obwohl laut einer Studie der Ruhr Universität Bochum circa 20 Prozent der Bevölkerung mit diesem Persönlichkeitsmerkmal ausgestattet sind, das keineswegs mit einer Krankheit oder einem Makel gleichgesetzt werden sollte. Leider werden Sensibilität und Schwäche in unserer Leistungsgesellschaft oft als Synonyme verwendet. Wie stark es sein kann, eine so intensive Wahrnehmung zu haben, um das volle Gefühlsspektrum auskosten zu können, bleibt meist unbekannt.
Das ist ja nicht zum Aushalten
​
Ich bin oft verwundert darüber, wie wenig Menschen aus meinem Umfeld sich mit sich selbst und dem Leben, das sie führen, auseinandersetzen. In meinem Leben ist kaum Platz für Oberflächlichkeit: Ich grabe wie ein Maulwurf nach einem tieferen Sinn in allem, ich will mich nicht mit gut zufriedengeben. Wenn man sich schon für Kleinigkeiten wie die perfekte Avocado begeistern kann, gibt man selten auf – der Belohnungseffekt ist einfach zu hoch. Eine stärkere Wahrnehmung hilft, die eigenen Grenzen besser kennenzulernen und sie auch einzuhalten – man hat gar keine andere Wahl. Situationen, Einflüsse und mangelnde Rückzugsmöglichkeiten einfach auszuhalten, kann sonst schnell krank machen. Sicher kann das nerven. Aber dann frage ich mich, ob es denn für den weiteren Verlauf meines Lebens wirklich so eine große Einschränkung ist, nicht einen ganzen Urlaub lang mit zwölf lauten Freund:innen im Zelt schlafen und unbegrenzt Besuch in mein WG-Zimmer einquartieren zu können. Letztendlich resultieren meine Gedanken immer in der Erkenntnis, dass ich vielleicht in einen Stadtteil umziehen sollte, in dem ich mir eine Wohnung mit Gästezimmer leisten kann.
Eine unerschöpfliche Glücksquelle
Dass ich über eine scheinbar unerschöpfliche Quelle der Begeisterung verfüge, merkte ich vor ein paar Jahren, als ich meine neue Wohnung dekorierte. Alles begann mit einer riesigen Krake aus Stoff, die mich durch das Fenster eines Spielzeuggeschäfts anlächelte. Alles an dem Stofftier schien meinen Namen zu schreien. Das flauschige Material, das dauerhaft lachende Gesicht, aber vor allem die acht Arme, die sich unermüdlich kringelten und sich munter um alles Greifbare zu schlingen schienen. Und natürlich die Tatsache, dass eine Krake eine ungewöhnliche Wahl für ein Stofftier ist. Ich ging vorbei. Wer braucht mit über 20 schon ein riesiges Stofftier, das dann im WG-Zimmer Staub ansetzt? Aber nach der Begegnung gab es kein Zurück mehr. Kraken schienen mich zu verfolgen und waren plötzlich überall. Also gab ich irgendwann nach und entschied mich, erst mal klein anzufangen. In einem Dekoladen erstand ich einen Magneten, bedruckt mit einer Krake, deren einer Arm sich besonders lustig kringelte. Selten hatte ich einen einstelligen Euro-Betrag besser investiert, fand ich. Der Magnet landete am Kühlschrank. „Schau mal, mein neuer Magnet“, sagte ich zu meinem Freund und klatschte begeistert in die Hände. „Prima“, sagte er. „Da ist eine Krake drauf“, merkte ich an. „Sehe ich“, sagte er. „Aber schau doch mal, wie putzig sich der eine Arm kringelt“, quietschte ich. „Das ist das Lustigste, was ich je gesehen habe.“ Darauf er: „Freut mich, dass du dich so freuen kannst.“ Das Gespräch wiederholte sich die nächsten eineinhalb Jahre in unserer gemeinsamen Wohnung so oft, wie ich den Kühlschrank öffnete – meine Begeisterung für die kringelnde Krake war noch immer wie am ersten Tag, während sich seine Geduld langsam dem Ende neigte.
Danach trennten wir uns und der Magnet zog mit mir nach Berlin. Anschließend fragte ich mich, ob das unendliche Hinweisen auf den fröhlichen Meeresbewohner seinen Beitrag dazu geleistet hatte. Ich kann es verstehen: Ein Überschuss an Begeisterung ist auf Dauer genauso schwer zu ertragen wie andauernde Schlechtlaunigkeit – vor allem, wenn man gerne jeden Gedanken teilt. Die Beziehung ging, aber der Magnet ist geblieben – und ich freue mich immer noch jeden Tag darüber, wenn ich in die Küche komme.

Hat sich unser Schönheitsideal wirklich nachhaltig verändert?
​
Die Modewelt scheint liberaler denn je – nie zuvor haben so viele verschiedene Körperformen Zeitschriften und Plakate geziert. Modelagenturen ändern ihre Richtlinien, um inklusiver zu werden und Makel gelten als die neue Perfektion. Aber sind die Tage von Size Zero wirklich gezählt oder haben sich unsere Maßstäbe doch nur in eine andere Richtung verschoben?
von Konstanze Popp
Vor einiger Zeit – vielleicht zwei Jahre, genau kann ich mich nicht mehr erinnern – traf mich der positive Schock zum ersten Mal. Das Modeimperium H&M, bis dato bekannt für Billigkleidung, die durch teure Shootingkonzepte, präsentiert an Magermodels teuer wirken sollten, hat die erste Kampagne für Swimwear des Jahres veröffentlicht. Wie immer sah man die Models am weißen Sandstrand entlanglaufen, die Haare nur vom Salzwasser leicht gewellt, das Meeresrauschen im Hintergrund. Für jemanden, der nicht schon seit Jahren vom Einfluss der Modeindustrie und ihren Schönheitsidealen vergiftet wurde, mag es wie ein ganz normaler Werbespot ausgesehen haben. Mein Blick blieb jedoch am vermeintlichen Fehler hängen: das zweite Model von links hatte eine andere Figur als der Rest. Nicht nur, dass sie statt Größe 34 eine 36 trug, im Gegenteil. Ihr Bauch bewegt sich, als sie Richtung Meer läuft und das Wasser anfängt zu spritzen. Nach mittlerweile einigen Jahren hat sich durch den Einfluss der Body-Positivity-Bewegung Vieles geändert. Die Modeindustrie präsentiert uns nahbare Menschen statt perfekte Körper und die Botschaft scheint klar: Endlich weg von der ungesunden Diätkultur, die Makellosigkeit propagiert und unerreichbare Standards schafft. Seitdem sind unzählige Marken auf den Zug der Diversitätsbewegung aufgesprungen. H&M Tochter Monki lässt Bademode nur noch von curvy Models präsentieren und selbst Abercrombie und Fitch schmückt sich jetzt mit diversen Körperformen. Vor einigen Jahren hatte der ehemalige CEO Mike Jeffries noch betont, die Mode von Abercrombie sei den "cool kids" vorbehalten, was einen sportlichen und schlanken Körper voraussetze. Ob in Onlineshops, Zeitschriften oder auf Social Media – Perfektion scheint passé, Akzeptanz ist angesagt. Models wie Winnie Harlow mit der Hautkrankheit Vitiligo oder Georgia May Jagger mit Zahnlücke erobern die Laufstege; Plus-Size-Ikone Ashley Graham posiert neben Kendall Jenner und Gigi Hadid auf dem Cover der amerikanischen Vogue. Die Modewelt jubelt. Da ist er, der lang ersehnte Wandel – auch "normale" Frauen dürfen sich endlich wohlfühlen.
Vermeintliche Makel
Was niemanden zu stören scheint ist die Tatsache, dass es doch genau diese vermeintlichen Makel sind, die die Schönheit erst vollkommen machen. Cindy Crawford, Claudia Schiffer und Naomi Campbell hatten das Rampenlicht lange genug exklusiv für sich gepachtet. Jetzt ist eine neue Generation von Models an der Reihe, die unser verändertes Verständnis von Schönheit und Idealen besser repräsentiert. Es scheint immer das am erstrebenswertesten zu sein, was am schwersten zu erreichen ist. Sollte das ursprüngliche Ziel doch sein, dass Menschen mit Makeln sich nicht mehr verstecken müssen, ist aus dem Anderssein ein regelrechter Hype entstanden. Auf TikTok findet man Tutorials für aufgemalte Sommersprossen oder die Anwendung der Dosen-Version, die direkt auf das Gesicht aufgesprüht werden kann. In einer Zeit, in der es alles schon zu geben scheint und uns fast nichts mehr überraschen kann, ist Einzigartigkeit zu einem wertvollen Gut geworden – noch wertvoller, als die reine Perfektion. Pigmentflecken überbieten jetzt makellose Haut und kräftige Locken übertrumpfen seidig glatte Haare. Was wirklich noch echt ist, rückt dabei in den Hintergrund.
Aber ist diese Entwicklung wirklich neu? "Das Infragestellen des westlichen Schönheitsideals konnte man erstmals schon in den 70er-Jahren beobachten", sagt Ulrike Wegener, Dozentin für Mode- und Kulturgeschichte an der AMD Berlin. "Nachdem schon in den 60er-Jahren viele gesellschaftliche Werte und Grundüberzeugungen hinterfragt wurden, entstand aus diesen Gedanken sowohl die Hippiekultur als auch die japanische Mode." Designerinnen wie Rei Kawakubo suchen Schönheit in neuen Ansätzen abseits der westlichen Ideale und verdrängen damit erstmals Vollkommenheit durch Individualität. Was das Schönheitsideal des Körpers betrifft, gab es immer extreme Tendenzen wie eine Wespentaille oder eine hohe Stirn im 15. Jahrhundert. Neu ist jedoch das Element der Einzigartigkeit – war es früher meistens nur das Ziel, einer bestimmten Gruppe anzugehören, wollen wir uns heute innerhalb dieser Gruppe von anderen abheben. Imperfektionen machen uns also wertvoll? Aber bitte nur, solange es nicht zu viel wird – der Grat zwischen erwünschten und unerwünschten Makeln ist schmal. Winnie Harlow und Georgia May Jagger haben trotzdem Modelmaße und Ashley Graham ein Gesicht, das in jeder Hinsicht den westlichen Schönheitsidealen entspricht. Gigi und Bella Hadid, Adriana Lima und Kendall Jenner gelten als die am besten bezahlten Models weltweit – Makel sucht man hier vergeblich.
Akzeptanz auf Instagram
Ist Perfektion in unserer Auffassung von Schönheit und Mode also wirklich weniger relevant als früher? Das ist laut Ulrike Wegener nicht eindeutig zu beantworten. Während auf der einen Seite Tendenzen einer Gegenbewegung zur Perfektion auf den Laufstegen zu erkennen sind, ist der allgemeine Drang, einem bestimmten Schönheitsideal zu entsprechen noch immer ungebrochen. Dies kann man vor allem auf den sozialen Netzwerken beobachten, wo trotz Bewegungen wie #nofilter ästhetischere Beiträge noch immer beliebter sind. Viele Influencer*innen versuchen jedoch, den Trend der Akzeptanz auch in den sozialen Netzwerken präsenter zu machen. Vor allem auf Instagram findet man dazu unzählige Beiträge im ähnlichen Muster. Hier zeigen nicht nur Models mit perfekten Maßen ihre Sommersprossen, sondern wirkliche Makel finden ihren Weg an die Öffentlichkeit. Falten, Cellulite und Speckrollen werden im Vergleich zu einem Foto gezeigt, für das besser posiert wurde. Die Nachricht: Social Media ist fake! Auch ich habe einen Bauch, wenn ich mich hinsetze! Was jedoch auch hier ungesagt bleibt, ist die Tatsache, dass der Großteil der Frauen, die ihren Körper so präsentieren, noch immer weiß, schlank und attraktiv sind. Nicht jeder kann behaupten, seine Speckrollen je nach Pose verstecken zu können. Wer wirklich dick ist, ist das aus jeder Perspektive, vor und nach dem Essen und unabhängig vom Winkel, aus dem fotografiert wurde.
Body-Positivity und der Hype um die 2000er
Dass die neuen Werte noch immer nicht wirklich tief in der Gesellschaft verankert sind, merkt man daran, wie sehr sie sich von Trends beeinflussen lassen. Seit dem letzten Jahr holt sich die 2000er-Mode ihren Platz am Tisch zurück: Hosen und Röcke werden low-waist getragen und Neckholdertops mit Strasssteinchen sind zurück. Auch wenn die Generation der alten Ikonen durch eine neue ersetzt wurde, sind die gesellschaftlichen Phänomene geblieben – low-waist scheint untrennbar mit low-fat verknüpft. Und so wird der Blick in die sozialen Netzwerke schnell zur Zeitreise. Dünne Körper im 2000er-Look sind omnipräsent und scheinen den Trend für sich gepachtet zu haben. "Durch den von Kate Moss geprägten 'Heroin Chic' wurde bis zum Anfang der 2000er-Jahre ein extrem schlankes Schönheitsideal verfolgt", so Wegener. "Kurze Zeit später kann man hier jedoch einen Bruch erkennen: Viele Models starben damals an Magersucht, was zur Forderung normalerer Körper auf den Laufstegen und zur Abkehr vom ungesunden Ideal führte." Könnte es also sein, dass wir uns aktuell wieder am Angang dieses Kreislaufes befinden? Auch die Kardashian-Schwestern, bis dato Ikonen kurviger Körper, zeigen sich seit kurzem deutlich dünner und haben bei TikTok durch ihren Gewichtsverlust einen Hype als "skinny legends" ausgelöst. Hat sich in der Modewelt also wirklich so viel getan, wie wir denken? Oder ist die Body-Positivity-Bewegung doch mehr labiles Konstrukt als etablierter Part unserer Gesellschaft, das durch einen einfachen Trend wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt?
Trotz aller Kritik ist das Element der Sichtbarkeit nicht zu unterschätzen. Was in unserer Wahrnehmung keinen Platz hat, wird schnell als fremd und damit falsch abgestempelt. Dinge, mit denen wir uns immer und immer wieder konfrontiert sehen, finden irgendwann ihren Platz in unserem Bewusstsein und werden damit als normaler wahrgenommen. Genau hier hat die Body-Positivity-Bewegung einen maßgeblichen Beitrag geleistet. Auch wenn sich das Ideal an vielen Stellen noch nicht verändert hat, ist die Akzeptanz verschiedenster Körperformen gestiegen. Noch immer müssen viele mehrgewichtige Influencer*innen mit Hasskommentaren unter ihren Beiträgen rechnen. Gleichzeitig steigt jedoch auch der Zuspruch. Viele User*innen sehen die Inhalte als Inspiration, sich trotz größerer Größen nach ihrem Geschmack zu kleiden, Trends auszuprobieren und nicht vor kurzer oder enger Kleidung zurückzuschrecken. Die Body-Positivity-Bewegung ist also vielleicht nicht der Durchbruch, der sie gerne gewesen wäre, aber doch ein deutlicher Fortschritt im Vergleich zur Werbeindustrie und fat-shaming der 2000er-Jahre. Jetzt heißt es allerdings dranbleiben: Das legendäre "Nothing tastes as good as skinny feels like" von Kate Moss wollen wir gemeinsam mit den Abnehm-Shakes und breiten Hüftgürteln auf dem 2000er-Friedhof begraben.